Game of Thrones, Breaking Bad, True Detective – TV Produktionen sind heute derart hochwertig, dass manche munkeln, Fernsehen sei das neue Kino. Doch mit aufkommenden, hochwertigen und internettauglich-kurzen Webserien stellt sich die Frage: Ist YouTube das neue Fernsehen?
VGHS (Video Game High School)
Die ursprünglich durch Crowdfunding finanzierte Webserie bezaubert zunächst vor allem durch ihre ‚Hogwarts meets Videogames‘ Prämisse. Darüber hinaus musste sie sich allerdings erst finden: Von Klischee zu Klischee schlurfend zeigt die erste Staffel den Underdog Bryan, wie er sich im angehenden Pro-Gamer Internat gegen den beliebtesten Jungen der Schule beweisen muss, während er (mehr oder weniger) heimlich in dessen Freundin verliebt ist – bis dahin recht prototypisch an das Teenie-Genre angelehnt.
Umso überraschender überzeugen die zweite und dritte Staffel, in der die Episoden immer länger werden: Filme, Fernsehen und Videospiele persiflierend spielt die Serie dann mit Klischees, anstatt sie sich nur anzueignen. Der Community-Vibe wird dazu mit Selbstironie und Gastauftritten aufgepeppt, etwa von Joel McHale oder Tony Hawk. Zwischen den Gags muss man aber manches mal auch schlucken, insbesondere wenn es um die gebrochenen Familien der Hauptdarsteller geht: Von der abhängigen Mutter Bryans über Teds lieblosen Vater, der sich seinen Sohn in seinem Schatten stehend wünscht, bis hin zu Jennys kalten, drillenden und abwesenden Mutter wird kaum ein Elternhaus als halbwegs intaktes dargestellt. Vor lauter Ironie und Spaß wird man manchmal unverhofft vom Ernst eingeholt – und genau das macht die Serie unterm Strich so großartig.
Dr. Horrible’s Sing-Along Blog
Das während des ‚Writer’s Guild of America‘ Streiks von Joss Whedon produzierte Musical ist ein wundervolles Beispiel für die Möglichkeiten des Internets, hochwertige Indie-Produktionen zu gebären. Jeder der drei Akte startet mit einem für YouTube typischen Vlog: Dr. Horrible (Neil Patrick Harris) versucht darin, seinen Followern an seinem Aufstieg zum Ober-Bösewicht teilhaben zu lassen. Während er sich beruflich mit dem ‚Helden‘ Captain Hammer (Nathan Filion) herumschlagen muss, versucht er privat den Mut zu fassen, die Aktivistin Penny (Felicia Day) anzusprechen.
In der Serie hinterfragt Whedon Schwarz-Weiß-Denken: Während Dr. Horrible sich davor schäut, jemanden zu verletzen und ehrliches Interesse an Penny als Menschen hat, genießt Captain Hammer Gewalt und nutzt seinen Idol-Status aus. Für den vermeintlichen Helden stehen Menschen weit unter ihm, Frauen dienen ihm lediglich der Unterhaltung – so auch Penny, die sich nach seiner scheinbaren Rettung in ihn verliebt. Gut und Böse werden hier auf den Kopf gestellt und man fragt sich: Warum ist gutes gut und böses böse?
H+
H+ ist der Blockbuster unter den Webserien. Sie beschreibt eine Zukunft, in der ein Drittel der Bevölkerung anstatt eines Smartphones ein Implantat verwendet, um sich mit dem Internet zu verbinden. Am Anfang der apokalyptischen Scifi Mystery Serie sterben ein Großteil der Implantatträger an einem weltweit gesendeten, digitalen Virus. Neben einem immensen Produktionsaufwand unter Produzent Bryan Singer unterscheidet sich H+ aber auch in anderen Punkten von herkömmlichen Webserien: So liegt etwa der Fokus nicht lokal auf wenigen Perönlichkeiten, die die Zuschauer zum Zurückkehren zur nächsten Folge animieren. Vielmehr springt die Serie von Episode zu Episode vor und zurück in Raum und Zeit, erzählt die Geschichte aus einer Vielzahl von unterschiedlichen Perspektiven und bleibt dabei fragmentarisch, so dass man sich aus den Mosaikstücken das Gesamtbild selbst zusammenpuzzeln muss.
H+ setzt sich mit dem Thema Transhumanismus und dem Nutzen und Gefahren von Technologie auseinander. Dabei funktioniert H+ als Webserie besonders gut: Eine Version mit Anmerkungen lässt Hinweise und Kommentare auf dem Schirm wie bei einem HUD aufpoppen, Hyperlinks führen Interessierte zu weiteren Hintergrundinformationen. Viele Episoden sind nicht einmal drei Minuten lang und überstrapazieren damit nicht die kurze Aufmerksamkeitsspanne vieler Internetnutzer. Doch leider ist die letzte Episode der ersten Staffel schon im Frühjahr 2013 veröffentlicht worden und bis heute lassen sich keine Informationen über eine zweite Staffel finden. So wird die Serie als ganze wahrscheinlich ebenso fragmentarisch bleiben wie seine Einzelteile.
Das Netzwerk
Angelehnt an den Mockumentary Stil von The Office oder Stromberg zeigt die Serie den Büroalltag des YouTube Netzwerks Studio71. Im Fokus stehen Fabian Siegismund und sein Traum von einer eigenen Webserie – man merkt schon: Es wird hier viel mit der Meta-Ebene gespielt. So etwa, wenn YouTube Sternchen des Netzwerks zu Promotion-Zwecken auftreten sollen (darunter David Hain, Goercki und LeFloid), oder wenn die Preisverleihung des Webvideopreises in die Narration eingeflochten wird, als Siegismund für SiegHain gekürt wird. Das Spiel zwischen Realität und Fiktion findet eine neue Stufe – eine zu durchbrechende vierte Wand gibt es kaum noch.
Angereichert wird die Serie mit zusätzlichen Formaten, in denen beispielsweise Kommentare kommentiert werden, oder in denen der Hausmeister Andi einen Vlog führt. Mittlerweile läuft bereits die zweite Staffel der Serie, die auch nach Siegismunds beruflicher Neuorientierung weiter unter seiner Leitung produziert werden soll.
Shore, Stein, Papier
Viel gibt es nicht in dieser Webserie: Es sind nur zwei Kamerawinkel, auf einen Mann gerichtet, der von seinem Leben erzählt. Und doch hat es gereicht für 380 Folgen, von denen allein die erste fast eine Millionen Views erreicht hat. Dabei arbeitet der symphatische Geschichtenerzähler unter seinem Pseudonym $ick etwa 20 Jahre Drogenvergangenheit auf. Was davon genau wahr ist und was nicht, bleibt offen. Vielleicht ist das aber auch gar nicht so wichtig.
So oder so wird der Zuschauer mitgerissenen vom Bewusstseinsstrom des Erzählers, mal erheiternd, mal beklemmend, aber immer authentisch. Sucht, Kriminalität, Gefängnis, irgendwann dann der Ausstieg – das sind die großen Stationen der Geschichte eines Mannes, der mit 15 anfängt ‚Shore‘ zu rauchen und fast ein Jahr braucht, um festzustellen, dass das nur ein anderer Name für Heroin ist. Dass so eine minimalistische Serie existentielle Dimensionen umkreisen kann und damit in die Herzen der Zuschauer trifft, zeigt ihre Beliebtheit: Shore, Stein, Papier gewann dieses Jahr den Publikumspreis des Grimme Online Awards.
Also: Sind Webserien jetzt das neue Fernsehen?
Wenn diese Beispiele eins gezeigt haben, dann das: Webserien können nicht nur hochwertig sein, sie zeichnen sich vor allem durch Innovationen und ihre Andersartigkeit aus. Es gab mal eine Zeit, in der YouTube eine Plattform war für Katzenvideos und Aufnahmen von Leuten, die gegen eine Glastür rennen. Heute gibt es das zwar immer noch, aber YouTube ist mittlerweile auch ein Sammelplatz für kreative Köpfe, die aus den festgefahrenen Grenzen der Fernsehanstalten und der großen Studios ausbrechen wollen. Diese Webserien sind nicht wie Netflix-Formate nur Fernsehserien im Internet, sondern ermöglichen es, mit dem neuen Medium auch neue Wege zu gehen. Man darf gespannt sein, ob die Originals-Formate im kommenden YouTube-Red Abo diesen Indie-Geist weiterhin einfangen können. Kurz: Fernsehserien werden natürlich nicht aufhören zu existieren. Aber wir dürfen uns über ein insgesamt abwechslungsreicheres, interessanteres Medienangebot freuen – auch außerhalb des Mainstreams.
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